Wie berichtet man wenn ein Berg droht, dass eigene Heimatdorf zu verschütten? Ich weiss es nicht. Aber ich habe versucht meine Gedanken aufzuschreiben.

Zuerst war da nur ein kleiner Abbruch. Dann folgte ein Murgang. Viele haben nicht einmal bemerkt, dass es im Birchin am vergangenen Mittwoch zu rumoren begann. Wir leben in den Bergen – solche Ereignisse gehören zu unserem Alltag. Selbst als Gemeindepräsident Matthias Bellwald am Samstagabend die gesamte Bevölkerung innerhalb von 30 Minuten in die Turnhalle zu einer dringenden Information rief und mitteilte, dass ein Teil des Dorfes evakuiert werden müsse, war die Stimmung zwar angespannt, aber gefasst.
Das Nesthorn war zu diesem Zeitpunkt in Bewegung geraten. Die rund 100 betroffenen Bewohner hatten 90 Minuten Zeit, ihre Häuser zu verlassen. Die letzten Worte des Gemeindepräsidenten waren: «Jetzt könnt ihr gehen, das Wichtigste einpacken und euch bei der Gemeindekanzlei abmelden. Ruhig bleiben – und einen andächtigen Blick hoch zum Berg werfen.» Und das taten viele – das kann ich euch versichern.
Die Evakuation verlief reibungslos. Wie ein früherer Gemeindepräsident einst sagte:
«Wir sind ein katastrophenerprobtes Volk.» Alle halfen einander beim Räumen der Häuser, stellten leere Ferienwohnungen, Hotelzimmer und Betten zur Verfügung. Die Nacht auf Sonntag verlief ruhig. Der Sonntag aber war paradox: blauer Himmel, Vogelgezwitscher, heile Welt. Wäre da nicht dieser bedrohliche Berg über uns.
Unten im Dorf schien das Leben seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Doch viele zog es am Sonntag hinauf nach Weissenried. Vom Dorf aus wirkt das Nesthorn harmlos. Von dort oben aber sahen wir, dass sich immer wieder Felsbrocken lösten.
Die Medienkonferenz am Nachmittag bestätigte: Der Berg bewegt sich zunehmend schneller. Dennoch gingen wir ruhig zu Bett. Am Montag fuhren die meisten wie gewohnt zur Arbeit. Kurz vor halb zehn Uhr erhielt ich die Nachricht, dass die Bewegung des Nesthorns sich in den letzten Minuten beschleunigt habe. Ich fuhr in die Höhe, um den Berg zu beobachten – und zum ersten Mal wurde mir richtig bange. Zuerst dachte ich, der Wind würde mir die Tränen in die Augen treiben. Ich filmte weiter. In einem ruhigen Moment merkte ich aber: Es war nicht der Wind. Ich weinte.
Dann kam die Schockmeldung: Das ganze Dorf wird evakuiert, alle müssen raus. Knapp eine halbe Stunde hatten wir Zeit. Meine Mama hat das Nötigste für unsere Familie in einen Koffer gepackt und fuhr nach Ferden. Ich fuhr hinunter ins Dorf – nach Hause durfte ich nicht mehr.
Auch ich musste schnellstmöglich weg. Hätte ich in dem Moment begriffen, was da gerade passiert, ich hätte mein Dorf etwas länger im Rückspiegel betrachtet. Doch dafür blieb keine Zeit – das Adrenalin war zu hoch.
In Wiler bei der Turnhalle schloss ich als Erstes meine Mama in die Arme. Wir sind alle in Sicherheit, das ist das Wichtigste. Dann begann die Zeit des Wartens. Und das ist das Schlimmste.
Wenn man nichts mehr zu tun hat – ausser zu warten.
Warten bedeutet Zeit zum Nachdenken haben.
Zum Nachdenken darüber, was uns das Kleine Nesthorn noch bescheren wird. Dieser Berg über uns.